Ein Theologe als »Lehrer des Volkes«



Klaus Goßmann/Christoph Th. Scheilke

Schon zu Lebzeiten berühmt, war Comenius lange Zeit nur als Pädagoge bekannt und gefragt. Weit verbreitet wurde sein »Orbis sensualium pictus« von 1654. In 180 Bildern und einfacher Sprache, bisweilen in Frage-Antwortform, führt dieses Schulbuch in die Welt ein, für Comenius: in Gottes gute, d. h. wohlgeordnete Schöpfung. Auch durch seine Konzeption für den Elementarunterricht, das »Informatorium der Mutterschul« (1633) und sein Sprach- und Sachbuch, die »Sprachpforte« (1629/31), wurde Comenius ein gefragter Lehrbuchautor. In seinen Schulbüchern zeigt er, wie man allen alles möglichst gründlich (omnes omnia omnino) beibringen kann. Diese Grundsätze tauchen bis heute in der pädagogischen Diskussion auf, so z. B. erst kürzlich in einem Vorschlag, allgemeine Bildung entsprechend zu definieren. Während die Schul- und Lehrbücher in viele Sprachen übersetzt und immer wieder aufgelegt wurden, gerieten die theologisch-philosophisch-pädagogischen Werke des Comenius zwischenzeitlich in Vergessenheit.

Der theologische Grund

Sein pansophisches Hauptwerk, die Umfassende Beratung über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten (De Rerum Humanarum Emendatione Consultatio Catholica), wurde erst 1935 im Halleschen Waisenhaus wieder entdeckt und 1966 veröffentlicht. Seitdem kann man wieder dem Hinweis Wilhelm Diltheys folgen und die Pädagogik des Comenius im Horizont seiner Pansophie, und d. h. seiner Theologie studieren. Ihren zentralen Teil, den vierten von sieben, die Pampaedie, hat Klaus Schaller soeben wieder in Deutsch aufgelegt. Ihm, dem unermüdlichen »Kurator« der pädagogischen Schriften des Comenius, verdanken wir auch zum großen Teil die Wende in der Comenius-Rezeption. Die 300-Jahr-Feiern des Geburtstags von Comenius galten dem »Lehrer der Völker«. Das Herborner Kolloquium (1984) stellte die Aufgabe für die Comeniusforschung heute heraus: die weitere Erforschung seines theologischen und pansophischen Werkes. »In der Diskussion wurde mehrfach auf Schallers Klage (1973) hingewiesen, daß man in der gegenwärtigen Comeniologie vergeblich nach einem theologischen Schwerpunkt suche« (Schaller 1985, 239). Aber auch wenn man schon in Herborn konzedieren mußte, daß »Komenskys Theologie nicht so unbearbeitet geblieben war, wie es 1973 noch schien«, so gibt es doch noch erhebliche Defizite zu konstatieren. Trotz mancher Bemühungen, z. B. Vorländer, v. d. Linde, Nipkow, Schröer (in Schaller 1985), Schwager, Biehl (1989), ist das theologische Erbe des Johann Amos Comenius für viele - auch Theologen - terra incognita. Woher soll die Kenntnis aber auch kommen? Die wichtigsten pädagogischen Arbeiten sind in deutscher Sprache zugänglich. Die philosophischen Hauptwerke (Janua rerum, Via lucis, Triertium catholicum) ediert z.Z. Erwin Schadel. Wo aber bleiben die theologischen, z.B. die Panorthosie, Comenius' »praktische Theologie«, und der »Haggaeus redivivus«? Und damit fehlt nicht nur ein Teil des Comenianischen Gesamtwerkes, es fehlt das Fundament. Denn Comenius verstand sich zu allererst als Theologe: »Was ich für die Jugend geschrieben habe, das habe ich nicht als Pädagoge, sondern als Theologe geschrieben.«

In seinem theologischen Denken, einer »Theologie der Hoffnung« (so P. Biehl und H. Schröer), finden sich Überlegungen, die auch heute wieder Orientierung ermöglichen. Diese Theologie ist nicht eine von den anderen Wissenschaften isolierte Theologie. Sie ist auf Weisheit, Allweisheit gerichtete Theologie, die die ganze Fülle und Tiefe der Schöpfung bedenkt. Comenius nimmt die große Tradition der biblischen Weisheit auf, wie sie das Alte Testament mit der Weisheit, die vor Gott spielt, mit Salomo und der Krise der Ordnungen und das Neue Testament mit Christus als Lehrer, in dem »alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind« (Kol 2, 3), vor Augen stellen. Mag er uns als gekünstelter Biblizist erscheinen, weil er im ganzen Werk Erkenntnisse biblisch belegt, so ist doch dieses Verfahren bemerkenswerterweise so angelegt, daß eben die Bibel in Zitaten sich bewährt und daß sie gebraucht wird. Er vertritt nicht eine Dogmatik, von der her Theologie systematisch deduziert wird, sondern es ist ein Bibelgebrauch in den Lebensfragen selbst. Denn mit Paulus (Röm 11, 36) sind für Comenius alle Dinge von Gott, durch Gott und zu Gott hin (a Deo, per Deum, ad Deum). Gott war und blieb für Comenius in allen Anfechtungen seines bewegten Lebens das »Centrum securitatis« (Lissa 1633) wie das »Unurn necessarium« (Amsterdam 1668). Ohne Kenntnis der theologischen Voraussetzungen erscheint Comenius leicht als einer, der pädagogischen Allmachtsphantasien nachjagt, als Perfektionist mit Vervollkommnungszwang, als Anthropozentriker. Erst wenn man - seine trinitarische Theologie vor Augen - die Stellung des Menschen als Geschöpf und Mitarbeiter Gottes nachvollzieht, erschließen sich auch die pädagogischen Überlegungen Comenius'.

Pampaedia

Trotz Krieg - dreißigjährigem Krieg -, Pest und Gewalt hat Comenius als »Mann der Sehnsucht« (Spranger) nie den Glauben an die Allharmonie, also an das Gutsein der Schöpfung, aufgegeben. Die Welt als Schöpfung enthielt für ihn die Aufforderung, den wahren tiefen Zusammenhang und damit das Dunkel aufzuhellen, denn der Weg des Lichtes ist für ihn leitend - der Geist enthält für ihn die Fähigkeit, die Welt im rechten Licht zu sehen (Ps. 36, 10: »Denn in deinem Lichte sehen wir das Licht«). Es ist durchaus Aufklärung als Illumination beabsichtigt. Es gilt, die rechte Position, den jeder Kreatur zukommenden Ort, zu erkennen, insbesondere den des Menschen als »Vice Gott, dem die Haushalterschaft über die Welt in Verantwortung übertragen ist. Über die rechte Sprache - weswegen Comenius eine Pforte zu den Sprachen »Janua linguarum« verfaßt hat -sollen wir zu den Dingen vorstoßen, weil rechte Sprache eben den Dingen in ihrer Schöpfungsratio gerecht werden soll. Realismus und Metaphysik verschränken sich hier ebenso wie Empirie und Theologie. Metaphysik wird Didaktik, wird Kunst, das Fundament elementar zu lehren, und damit zugänglich für alle. Comenius sucht eine Weisheit für alle, auch wenn nicht jeder alles wissen kann.

Für die Wiederentdeckung von Comenius war der Fund seines verloren gegangenen Hauptwerkes durch den tschechischen Comeniusforscher Dmitrij Tschiiewskij 1935 im Archiv der Bibliothek des Frankeschen Waisenhauses in Halle entscheidend. Man entdeckte, daß die Pampaedia in der Mitte dieses großen Gesamtwerkes steht, hinter den Büchern All-Erweckung (Panergesia), All-Erleuchtung (Panaugia), All-Erkenntnis (Pansophia im engeren Sinn), und vor den Büchern All-Sprache (Panglottia), All-Zurechtbringung (Panorthosia) und All-Ermahnung (Pannuthesia). Damit wurde deutlich, daß die pädagogischen Werke des Comenius nicht aus sich heraus verstanden sein wollen, sondern durch diesen theologisch-philosophischen Gesamtzusammenhang interpretiert werden und ihn zugleich selbst im Sinne einer pädagogischen Praxis konkretisieren (Schaller 1967). Es ist bisher noch nicht zureichend herausgearbeitet worden, welche Bedeutung dem pädagogischen Werk des Comenius, speziell seinem Alterswerk Pampaedia, unter religionspädagogischen und pastoraltheologischen Gesichtspunkten zukommt.

Schon der Titel Pampaedia macht deutlich, daß dieses Werk auf das Ganze zielt: Allen Menschen (omnes) ist das Ganze (omnia) von Grund auf (omnino, d. h. in einem auf das Ganze bezogenen didaktisch-methodischen Ansatz) zu lehren. »Wir wollen, daß alle Menschen Pansophoi werden >daß alle das wahre Wissen vom Ganzen erlangen< ... Wenn nämlich alle Menschen von Grund aus über das All belehrt würden, wären sie alle wahrhaft weise, und die Welt wäre voll Ordnung, Licht und Frieden« (Pamp. 1991, 16).

Das »alle Menschen« findet seine theologische Begründung in der Rechtfertigungslehre. Dabei betont Comenius nicht so sehr das Kreuz, sondern die Auferstehung. »Hatte Luther im Zeichen seiner theologia crucis das Sündersein des Menschen vor Gott und die täglich neu zu ergreifende Rechtfertigungsverheißung betont, so wird für Comenius die in Christus tatsächlich wiederhergestellte Gottesebenbildlichkeit des Menschen zur grundlegenden Gewißheit« (Nipkow 1990, 219). Comenius betont zugleich, daß der Mensch als Mitarbeiter Gottes, als »Pansoph«, an seinem Ort und mit seinen Möglichkeiten an der Verbesserung und Erneuerung des Ganzen mitwirkt. Dieser doppelte Bezugspunkt, zugleich vom einzelnen und von dem Bezug auf das Ganze her zu denken, bestimmt auch den erkenntnistheoretischen Ansatz des Comenius. Er hat seiner Didactica magna bewußt das Motto »Erkenne dich selbst« vorangestellt. Er folgt somit einem subjekttheoretischen Ansatz und steht damit in der Umbruchsituation des 15./16. Jahrhunderts zwischen Mittelalter und beginnender Neuzeit auf der Seite der Moderne (was vielfach übersehen wird). Andererseits kann der Mensch sich selbst nur recht erkennen, wenn er sich im Zusammenhang der gesamten Schöpfung und damit in seinem Gottesbezug sieht: »Wenn du, o Mensch, Mich erkennst, erkennst du dich selbst: Mich, die Quelle der Unsterblichkeit, der Weisheit und der Glückseligkeit, Dich, mein Werk, mein Bildnis, meine Wonne« (ODO 1, 17). Damit ist das individuelle Moment dem Ganzen zu- und untergeordnet. Theologisch gesprochen: Der Mensch steht als Mandatar Gottes der Schöpfung gegenüber und ist zugleich eingebunden in das Ganze der Schöpfung. Das aber verweist ihn darauf, über »das All« belehrt zu werden, um wahrhaft weise zu sein.

Die Allweisheit bedeutet, die Welt als Ganzes zu sehen. Hier ist von Bedeutung, daß die drei Bücher

  1. »das Buch des Geistes, auf daß nirgendwo etwas zugelassen werde, was der Vernunft widerspricht;
  2. das Buch der Welt, damit sich in unseren Handlungen nichts Unharmonisches zeige, sondern alles so systematisch sei, wie die Werke Gottes sind;
  3. das Buch der Heiligen Schrift, damit nichts gegen den Rat Gottes getan werde. Denn hier ist unser Heiligtum, ... hier spricht der Mund Gottes« (Pamp. 1991, 256)

gleichwertig sind und zugleich den pädagogischen Ansatz bestimmen. Der Vergleich der drei Bücher und die hierbei zu entdeckende Übereinstimmung ermöglichen es, Gottes Ordnung wahrzunehmen. Damit ist - bei aller gebotenen Unterscheidung - ein Gegensatz von Glauben und Denken, zwischen Kirche und Gesellschaft nicht mehr gegeben. Vielmehr kann der Glaube sich nur entfalten und gestalten, wenn sich ihm neben dem Buch der Heiligen Schrift auch die anderen beiden Bücher öffnen. Dies bringt Comenius in eine Nähe zu den Schulschriften Luthers und läßt dabei zugleich einen charakteristischen Unterschied erkennbar werden. Für Luther spielt einerseits der Gedanke des weltlichen Regiments eine Rolle, daß eine Stadt »viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlerzogener Bürger hat, die könnten darnach wohl Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht brauchen«, und andererseits die aus dem Allgemeinen Priestertum erwachsende Aufgabe eines theologischen Laienunterrichts, also eine gemeindebezogene Argumentation, die auf die Befähigung jedes Christen zielt, »alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen«. Er bezieht sich deshalb vor allem auf die Lernphase der Jugend- und Schulzeit. Bei Comenius dagegen bestimmt der Bezug auf das Ganze sein Denken. Seine Reformvorschläge beziehen sich auf das Ganze des Bildungs- und Schulsystems von der »Familienbildung«- bis zur »Altenbildung«, und sie umfassen zugleich auch alle Lebensphasen des Menschen.

Eine zweite Reformation

Mit dem ersten Moment, den Vorschlägen zur Reform des Schul- und Bildungswesens, steht Comenius in einer Tradition, die auf Melanchthon und seine Schüler zurückgeht und der Comenius während seiner Studienzeit in Herborn begegnet ist, nämlich dem Gedanken, die Reformation Luthers durch eine »zweite Reformation« weiterzuführen, die »Reformation des Staates und Ausbildungswesens«. Comenius öffnet das institutionelle Moment von Schule und ordnet sie in einen völlig neuen Ansatz ein: Lernen wird in die Erfahrungs- und Lebensbezüge eingebettet. Er spricht deshalb zu Recht von der Schule als der »Menschen-Werkstätte«. Man braucht sich hierzu nur zu vergegenwärtigen, wie die Bildungs- und Schulreform am Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik zu einem einseitigen Lernsystem geführt hat und heute große Anstrengungen unternommen werden, um die Schule wieder zu einem »Lebens- und Erfahrungsort« werden zu lassen, um den Reformansatz des Comenius recht zu würdigen.

Mit dem Bezug auf das ganze Leben des Menschen nimmt Comenius im Grunde die heutige Sicht einer durch Phasen bestimmten Entwicklung des Menschen und einer biographisch-lebensgeschichtlichen Sicht von Lernen und Bildung im Ansatz vorweg. Es bietet sich an, exemplarisch ein paar Aspekte zu benennen, die für uns heute gemeindepädagogisch interessant sind.

Comenius versteht »Schule« in einem weiten Sinn als Lebensschule und teilt das Leben in sieben bzw. acht Lebensstufen oder »Schulen« ein. Die »Schule des vorgeburtlichen Lebens« entfaltet z.B. eine Verantwortungsethik für Eheleute unter der Perspektive gesunder und guter Lebensbedingungen für das werdende Leben. Hier wird in intuitiver Weise das vorweggenommen, was wir heute über die vorgeburtliche Phase für das Leben eines Menschen wissen. Die »Schule der frühen Kindheit«, bereits 1633 in der Schrift »Informatorium der Mutterschul« dargestellt, enthält einen von der Gesundheitserziehung über die religiöse Elementarerziehung bis zur musikalischen Früherziehung reichenden Ansatz einer Pädagogik für den Elementarbereich. Hier hat der Bildungansatz - wohl vor dem Hintergrund der in der Brüderunität gelebten Sozialverpflichtung für die ganze Gemeinde - auch eine soziale Dimension. Wo eine Familie mit der allgemeinen und religiösen Früherziehung überfordert ist, sollen Erzieher und Wärter, Pate und Patin als Helfer in der Kinderführung gegen Entgelt herangezogen werden; der Gedanke des Kindergartens ist damit geboren.

Die »Schule des Greisenalters« ist durch den Gedanken bestimmt, daß das Alter bei allen biologischen Grenzen - eine aktiv zu gestaltende Lebensphase ist. Hier ist von einer Betreuungsmentalität, die weithin die Altenarbeit bestimmt und erst durch neue gemeindepädagogische und erwachsenenbildnerische Überlegungen überwunden wird (vgl. z. B. Failing 1991), keine Spur. Das Auf-den-Tod-Zugehen wird nicht tabuisiert, sondern als eigene Lebensaufgabe begriffen: zu lernen, das Leben loszulassen, Abschied zu nehmen, auf das Sterben bewußt zuzugehen. Hierbei bekommt die Gesamtsicht des menschlichen Lebens seelsorgerliche Bedeutung. Comenius geht davon aus, daß dem Menschen drei Wohnungen zugewiesen sind: der Mutterleib, die Erde und der Himmel. Das Ziel des Lebens ist, »gut geboren zu werden, gut zu leben, gut zu sterben«. Er spricht deshalb von drei Festtagen des menschlichen Lebens: der Geburt, der Wahl des Berufes und dem Sterbetag als der »glücklichen Erlangung des Lebenszieles«. Dieser ist deshalb der größte der drei Feiertage, zu begehen »zur Ehre Gottes und zu unserem Trost«.

Schule zum Schalom

Das pädagogische Werk des Comenius ist jedoch nicht nur im Blick auf gegenwärtige gemeindepädagogisch-erwachsenenbildnerische Aufgabenstellungen bedenkenswert, sondern auch im Blick auf eine evangelische Mitverantwortung für das Bildungs- und Schulwesen insgesamt. Hier ist wiederum das bereits genannte Spannungsverhältnis von Individuum und dem Ganzen von Welt und Wirklichkeit leitend.

Die Entwicklung der Moderne ist bekanntlich stärker einem cartesischen als einem comenianischen Ansatz gefolgt. Dies hat zu einer Ausdifferenzierung einer naturwissenschaftlich-technisch bestimmten Welt geführt, der die Pädagogik gefolgt ist. Nun ist der Weg einer theologisch-metaphysischen Systembildung, den Comenius gegangen ist, außerhalb christlicher Denkvoraussetzungen nicht mehr nachzuvollziehen - zumal auch in der Entwicklung zur Postmoderne die Möglichkeit eines übergreifenden und kommunikablen Welt- und Lebensentwurfes nicht mehr gegeben sein dürfte. Dies spiegelt sich auch darin wieder, daß es derzeit keine einheitliche, das Bildungsverständnis zentrierende Bildungsidee gibt. Angesichts dieser Situation sind jedoch mindestens drei Fragerichtungen bedenkenswert, die den pädagogischen Denkansatz von Comenius bestimmen.

1. Er gibt - zu Beginn der Aufklärung der menschlichen Vernunft durchaus ihr Recht und sieht im rechten Vernunftgebrauch eine entscheidende Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen. Doch er folgt nicht dem bei Descartes sich anbahnenden Weg einer autonomen Vernunft, sondern bindet sich an den das Ganze durchziehenden Gedanken der göttlichen Weisheit und kommt so zu der Formel einer vernehmenden, d.h. auch sich selbst bescheidenden Vernunft.

2. Der theologische Denkansatz, der ihm in Herborn in Johann Heinrich Alsted, Piscator und der Tradition von Petrus Ramus begegnet, stellt im pädagogischen Bereich neben die kausale Frage nach den Dingen (Was sind sie, wie sind sie zu erklären?) die finale (Wozu sind die Dinge da, welchem Ziel dienen sie im Gesamtplan der Schöpfung?). Das ist deshalb bedeutsam, weil im heutigen Schulsystem der ethisch zu verantwortende Gesamtzusammenhang von Forschung und technischer Entwicklung - um es vorsichtig zu sagen zu kurz kommt.

3. Die Grundfrage zu Lebzeiten des Comenius: Wie ist ein Leben in dieser Welt, zerstört durch die Auswirkungen und Folgen eines Dreißigjährigen Krieges, überhaupt physisch und seelisch auszuhalten? stellt sich mutatis mutandis heute wieder. Man denke nur an vorliegende Erhebungen zu heutigen Kinderängsten. Comenius hat damals eine doppelte Antwort gegeben. Sein theologisch-pädagogischer Gesamtansatz enthält eine theologisch-eschatologische Gewißheitsperspektive, die den einzelnen dazu ermutigt und befähigt, sich in seinen Möglichkeiten an der Erneuerung und Verbesserung der Verhältnisse zu beteiligen, ohne ihm - dies besagt der eschatologische Aspekt - die Last für diese Zukunft aufzubürden. Es ist deshalb völlig sachentsprechend, daß die Ausführungen des Comenius immer wieder in Gebete und nicht in Appelle münden. Auch wenn diese theologisch-seelsorgerliche Sicht nicht einfach auf heutige Pädagogik übertragen werden kann, so wird doch zumindest deutlich, daß die Pädagogik die Frage nach einer solchen Gewißheitsperspektive nicht einfach ausklammern kann, und zugleich, daß Zukunftsgewißheit auch auf pädagogisches Tun ausstrahlt. Damit wäre dann evangelische Bildungsverantwortung im Sinne comenianischer Unterrichtserneuerung neu definiert: nicht nur ein kritisches Begleiten des staatlichen Bildungssystems, sondern ein pädagogischer Beitrag im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, sei es in den Schulen in kirchlicher Trägerschaft oder in kirchlich-pädagogischen Handlungsfeldern wie Konfirmandenarbeit und evangelischer Erwachsenenbildung.

In der Zurechtbringung aller Dinge wagt es Comenius, von seiner Wissenschaft und Weisheit her auch zu einer eschatologisch sensiblen Politik vorzustoßen, einer politischen Theologie, die aber eben pädagogisch, ja sogar kontemplativ verantwortet ist. Frömmigkeit und Bildung zum Nutzen und Frieden der Menschheit zu verbinden, als Reformator tätig zu sein - nicht zuletzt deshalb, weil die Reformation bis dato wohl eine Reformation der Lehre, aber noch nicht des gemeinsamen Lebens erbracht hatte -, diesem Ziel blieb Comenius in den Labyrinthen seines Lebens und den Wirren seiner Zeit treu. Zwischen Dogmatik und Politik entdeckte und entwarf er eine theologisch verantwortete Didaktik als Schule zum Schalom, zum Frieden im biblischen Sinne. »Schwerter zu Pflugscharen« war auch seine Devise (Prodromus 1963, 79). Dieser tschechische Theologe europäischer Gesinnung enthält gerade auch in der Auseinandersetzung mit Descartes Impulse für die Hoffnung in wiederum apokalyptischen Zeiten auf die Kraft einer Bildung, die die ganze Welt angeht. Überzeugt von der Konvergenz der Wahrheit in all ihren Gestalten tritt er dafür ein, nicht nur eine Tür zu bieten, die bald wieder geschlossen werden kann für die Auserwählten, sondern ein offenes Tor für alle (Prod. 167), so wie es das biblische Stadtbild des neuen Jerusalem verkündet (Offb. 21, 25; Prod. 167). Er bleibt als Lehrer ein Schüler: »So will ich denn mit dem Propheten den Herrn lobpreisen, der mich am Ohr zupft, damit ich sei wie einer, der achtgibt und lernt.« (Prod. 151)

Er bleibt trotz Enttäuschungen nicht ohne Hoffnung:

»Fern von uns sei es, die Hoffnung aufzugeben (Absit desperare). Jedes Verzweifeln ist eine Beleidigung Gottes, der den Bittenden, Suchenden und Anklopfenden seine Hilfe versprochen hat.« (Prod. 135)

 

Zitierte Literatur

Johann Amos Comenius: Opera didactica omnia (ODO). Amsterdam 1657, Bde 1-3. Prag 1957

Johann Amos Comenius: Vorspiele. Prodromus Pansophiae. Vorläufer der Pansophie. Hg., übersetzt und erläutert von Herbert Hornstein. Düsseldorf1963

Johann Amos Comenius. Pampaedia - Allerziehung. Hg. von Klaus Schaller. St. Augustin 1991

Wolf-Eckart Failing: Das Alter als gemeindepädagogische Herausforderung. In: Eckart Schwerin (Hg.): Gemeindepädagogik. Münster 1991, S. 119ff

Karl Ernst Nipkow: Bildung als Begleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft. Gütersloh 1990

Klaus Schaller: Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und die Anfänge des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert. Heidelberg 2. Aufl., 1967

Klaus Schaller (Hg.): Comenius. Erkennen - Glauben - Handeln. St. Augustin 1985

 

Werk- und weitere Literaturangaben

finden sich bei

Biehl, Peter: J. A. Comenius. In: Klassiker der Religionspädagogik, hrsg. von H. Schröer und D. Zilleßen. Frankfurt/M.: Diesterweg 1989, S. 47-73; auch zusammen mit anderen neueren Aufsätzen zu Comenius in: Ritzi, Chr./Scheilke, Chr. Th. (Hg.): J. A. Komensky. (Im Blickpunkt: Literaturhinweise und Texte zu aktuellen Themen. Bd. 8) Münster: Comenius-Institut 1991, S. 42-55

Dieterich, Veit-Jakobus: J. A. Comenius, rororo monographie 466. Reinbek 1991

Zum Gebrauch in Erwachsenenbildung und Sekundarstufe II: Goßmann, K./Schröer, H.: Auf den Spuren des Comenius. Texte zu Leben, Werk und Wirkung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992

 

erschienen in: Deutsches Pfarrerblatt 92 Jg. (1992), H. 3, S. 98-101

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