PARADIGMEN IN DER GESCHICHTE DER UNGARISCHEN PÄDAGOGIK

András Németh

Loránd-Eötvös-University, Budapest, Hungary

Béla Pukánszky

Attila József -University, Szeged, Hungary

In der folgenden Abhandlung werden die verschiedenen nebeneinander existierenden Schulen in der Geschichte der ungarischen Pädagogik beziehungsweise der ungarischen Erziehungswissenschaft erörtert. Die hauptsächlich betrachteten pädagogischen Theorien sind Universitätspädagogiken, d.h. sie sind an Professoren an den Universitäten Ungarns gebunden. Es handelt sich vor allem um die Budapester und KolozsvárerSzegeder pädagogische Schule, also in erster Linie um Theorien der beiden Gruppen von Professoren, die entweder an der Budapester oder an der Kolozsvärer-Szegeder Universität tätig waren.

Diese 'Schulen' verschiedener erziehungswissenschaftlicher Systeme werden als Paradigmen betrachtet, als nebeneinander existierende Art und Weise des pädagogischen Denkens. Sie hatten prägnante Merkmale, die das Paradigma von Budapest oder das Paradigma von Kolozsvár-Szeged charakterisierten. Man sieht verschiedene Dominanzen bei der Rezeption der internationalen pädagogisch-philosophischen Richtungen an der Universität zu Budapest und Kolozsvár, die in den Jahren 1919-1921 nach Szeged übersiedelte. Aufschlußreich können auch die Debatten und Kontroversen der beiden oben erwähnten Paradigmen sein. Der Zeitraum der Untersuchung liegt zwischen dem Anfang des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg.

1. DIE EINRICHTUNG DER PÄDAGOGIK ALS AUF DIE THEOLOGIE BEZOGENE UNIVERSITÄTSDISZIPLIN

Das 18. Jahrhundert hat eine fortschreitende Säkularisierung erlebt, was zu einer Distanzierung der Pädagogik von der Theologie fûhrte. Die Pädagogik hat in dieser Zeit, als sie sich immer noch mit der Theologie verbunden wußte, als Wissenschaft Anerkennung gefunden. Bei der Entfaltung der ungarischen Pädagogik als Wissenschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts spielten die Rezeptionen der damaligen deutschen Bestrebungen eine äußerst bedeutende Rolle (Kosáry 1983, Kosáry 1990). Diese Tendenzen, die sich auf dem Boden der protestantischen und katholischen Theologie entfalteten, strebten danach, eine Harmonie zwischen beiden pädagogischen Initiativen zu schaffen, die teilweise auf die traditionelle christliche Theologie, teilweise auf die klassische deutsche Philosophie gegründet waren. Hervorragende Vertreter dieser Richtung waren Protestanten wie Niemeyer, Schwarz, Schleiermacher und katholische Theologen: Graser, Sailer, Milde (Erlinghagen 1976). Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt es auch zu Systematisierungsversuchen, die die Pädagogik als neue Wissenschaft in eine Reihe mit den anderen alten und neu aufkommenden wissenschaftlichen Disziplinen zu stellen trachten. Zu den ersten Arbeiten, die dieses Ziel verfolgen, gehört der 1780 erschienene "Versuch einer Pädagogik" von Trapp (Menze 1975, 14).

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Pädagogik in Mitteleuropa, so auch in Ungarn, in zwei Typen von Hochschulen als Fach gelehrt: in den Priesterseminaren und an den Universitäten, wo die Pädagogik im allgemeinen im Lehrstoff der Theologie oder der Philosophie erschien. Als die Ausbildung von Volksschullehrern am Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Ungarn institutionalisiert wurde, verbreitete sich dieser Kreis graduell. In Ungarn wurden die ersten Lehrstuhle fur Pädagogik eben zu dieser Zeit eingerichtet, am Anfang des 19. Jahrhunderts. An der damals einzigen ungarischen Universität in Budapest (bis 1872) wurde der erste selbständige Lehrstuhl im Jahre 1814 gegrûndet, an dem die Pädagogik schon als Universitätsdisziplin (paedagogia sublimior) unterrichtet wurde (Fináczy 1905, 585). Mit dieser Bezeichnung wurde die systematisierte theoretische Pädagogik oder Erziehungswissenschaft von der praktischen pädagogischen Lehre oder Didaktik unterschieden. Die auf die Praxis bezogene Pädagogik wurde als praktische Erziehungslehre zu dieser Zeit auch in den Normalschulen1 und seit den zwanziger Jahren an den Lehrerbildungsanstalten für die Volksschulen gelehrt (Mészáros 1977).

Der erste Pädagogik-Professor an der Universität in Budapest war ein katholischer Theologe, János Krobót, der bis 1825 diese Stelle bekleidete. Hier wurden zu dieser Zeit auch die theologisch fundierten, in erster Linie deutschen pädagogischen Theorien adaptiert (wie Niemeyer: Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, 1796; Schwarz: Erziehungslehre, Leipzig 1802-1808; Demeter: Vollständiges Lehrbuch, Wien 1811; Milde: Lehrbuch der allgemeinen Erziehungskunde, Wien 1811, 1913). Gebrauchte und empfohlene Handbucher waren an der Budapester Universität seit den zwanziger Jahren die Werke von Milde und Niemeyer (Fináczy 1934).

1. 1 Die Wissenschaft der Erziehung von János Szilassy

Die erste ungarische, auf die pädagogischen Bestrebungen von Milde bezogene Zusammenfassung erschien im Jahre 1827 in Buda als das Werk von János Szilassy (1791-1859), "A nevelés tudománya" (Die Wissenschaft der Erziehung). Szilassy war zu dieser Zeit Lehrer am Priesterseminar in Szombathely. Nach dem Erfolg seines Buches wurde er 1830 als Mitglied der "Gelehrtengesellschaft" (Vorläuferin der heutigen Ungarischen Akademie der Wissenschaften) gewählt. 1835 wurde er dann zum Professor der Theologie an der Universität zu Budapest ernannt (Fináczy 1905, 584).

János Szilassy war der Verfasser der ersten systematisierten, vollständigen ungarischen Erziehungslehre, in der er auch die kohärente Struktur der pädagogischen Kategorien ausarbeitete. Dieses Werk ist eine Synthese der Initiativen der maßgebenden pädagogischen Denker der Aufklärung (in erster Linie Locke und Rousseau) und dieser Epoche (Kant, Niemeyer und Milde). Es ist daneben auch der erste erfolgreiche Versuch zur Grundung der ungarischen pädagogischen Fachsprache nach der Sprachreform. Dieses Werk popularisierte die zeitgemäßen pädagogische Auffassungen. In seiner Nachfolge wurden in den nächsten Jahrzehnten zahlreiche Erziehungslehren und methodische Lehrbücher in erster Linie für Priesterseminare und für Lehrerbildungsanstalten herausgegeben.

1.2 Das Weiterleben der auf die Theologie gegriindeten katholischen Pädagogik bei Ágost Lubrich

Der 'Ausgleich' im Jahre 1867, dieser historische Kompromiß des Hauses Habsburg mit der ungarischen Klasse der Grundbesitzer, schuf die Voraussetzungen für die bürgerlichen Modernisierung, die Basis für einen biirgerlichen Nationalstaat und die Grundlage fiir eine strukturellinhaltliche Erneuerung des ungarischen Schul- und Hochschulwesens.

Der erste wichtige Schritt in diese Richtung war das Volksschulgesetz im Jahre 1868. Das Ziel des damaligen Kultusministers, Baron Eötvös József (1813-1871), eines prominenten liberalen Politikers seiner Epoche, der mit seinen Mitarbeitern das Hauptdokument der ungarischen Volksschule, das Volksbildungsgesetz im Jahre 1868 (Nr. 38) geschaffen hat, war vor allem die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit Ungarns mit den entwickelten Ländern. In Zusammenhang mit seinen Bestrebungen wurde auch der institutionelle Rahmen der Universität in Budapest neu organisiert. Eine zentrale Frage war fur die Absicherung der ungarischen Universitätspädagogik das Ernennen eines öffentlichen Professors nach einer so lange Periode der Vakanz. Das geschah im Jahre 1870, als der Minister den Lehrstuhl fiir Pädagogik Ágost Lubrich (1825-1900) übergab, der dann 30 Jahre lang an dieser Stelle tätig war. Er war noch Gymnasiallehrer, als er sein Hauptwerk, die vierbändige "Neveléstudomány" (Erziehungswissenschaft), 1868 in Pozsony veröffentlichtete.

In seinem Werk kann man das Weiterleben der Traditionen der katholischen Pädagogik beobachten. Lubrich kämpfte heftig gegen die Verbreitung der Pädagogik Herbarts. Die "Erziehungswissenschaft" von Lubrich ist eine der Zeit gemäße Synthese der katholischen Pädagogik von Milde und von János Szilassy. Mit seinem rationellen Eklektizismus legierte er die heimischen pädagogischen Traditionen mit den ausländischen Strebungen (mit den Gedanken von Diesterweg, Beneke, Stoy u. a.) (Németh 1992). Gleichwohl ubte die pädagogische Konzeption des Herbartianismus durch seine Anhänger in den siebziger Jahren auch in Ungarn einen bedeutenden Einfluß aus. Der bedeutendste Verbreiter des Herbartianismus in Ungarn war Mór Kármán, der vor allem auf dem Gebiet der Reorganisation der Mittelschule und der Ausbildung von Mittelschullehrern seit den siebziger Jahren eine uberaus wichtige Rolle spielte.

2. DER WISSENSCHAFTLICHE PARADIGMENWECHSEL UND DIE PÄDAGOGIK AN DER WENDE ZUM 20. JAHRHUNDERT

Nach der Jahrhundertwende gab es einen Paradigmenwechsel in dem ungarischen geistigen Leben, der mit der Entfaltung neuer philosophischer, psychologischer und pädagogischer Tendenzen zusammenhängt. Dieser Paradigmenwechsel meldete sich in dem pädaqogischen Denken mit einer gewissen Verspätung.

2.1 Die Rezeption wichtiger geistiger Strömungen nach der Jahrhundertwende in Ungarn

Damals begann in Ungarn als 'geistige Frucht' des 'Ausgleichs' eine Renaissance, eine wahre Neugeburt der Literatur, der Kunst und der Wissenschaft. "Reformgedanken sind aus den Köpfen hervorgesprungen, und in den Lehrern mit Zwicker lebten ideenhungrige Rebellen" (Hanák 1994, 9). Diese Entwicklung bedeutete nicht die Hegemonie eines neuen Denksystems, sondern ein permanentes Suchen, die Tätigkeit verschiedener prominenter Denker, die Rivalität von Richtungen, die Grundung neuer Gesellschaften und das geistige Duell von Zeitschriften. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende standen die sozialen und gesellschaftsphilosophischen Probleme im Vordergrund und stimulierten sozialphilosophische Intuitionen, die später - 1918/19 - zum direkten Aufeinandertreffen der Philosophie und der Politik sowie gleichzeitig zur Kompromittierung der Philosophie fuhrten.

Am Anfang des 20. Jahrhundertes ubten der Materialismus (Karl Vogt, Ludwig Buchner, Ernst Haeckel) und der Positivismus einen bedeutenden Einfluß auf die Denkart der ungarischen Intellektuellen aus. Die bedeutendsten heimischen Vertreter des Positivismus Imre Pauer, Gyula Pikler, Oszkär Jászi, Bódog Somló und Jenõ Posch bildeten einen geistigen Kreis um die Zeitschrift "Huszadik Század" (Das Zwanzigste Jahrhundert). Durch ihre Vermittlung wurde der hervorragende englische Polyhistor, Herbert Spencer, auch in Ungarn bekannt. Seine Werke wurden seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ins Ungarische übersetzt (z. B. "Die geistige, sittliche und physische Erziehung" im Jahre 1875). 1912 wurde das Hauptwerk des hervorragenden Vertreters der angelsächsischen Pädagogik, "Die Erziehungswissenschaft" von Alexander Bain, in Ungarn in zwei Bänden herausgegeben. Die Vertreter des heimischen Positivismus - vor allem die Soziologen - rezipierten mehrere Elemente der marxistischen Gesellschaftstheorie wie z. B. Ervin Szabó, Sándor Varjas oder wurden zu bedeutenden Vertretern der marxistischen Philosophie wie Béla Fogarasi, György Lukács und László Rudas. Die sozialen Fragestellungen dieser Zeit gaben die Grundsteine zur späteren Kultursoziologie von Arnold Hauser, zur Ideologietheorie von Pál Szende und Karl Mannheim (Hanäk 1993, 53-54). Das Gegengewicht zu den materialistischen und positivistischen Tendenzen war auch schon zu dieser Zeit in Ungarn der Neukantianismus, den mehrere Strömungen der ungarischen Philosophie mit eigenständigen Elementen wie bei Károly Böhm, Ákos Pauler, Bernát Alexander, József Bánóczi, György Bartók färbten (Hanák 1993, 78).

Die Entwicklung der Kinderpsychologie hatte am Ende des vorigen Jahrhunderts zur Verbreitung der Pädologie gefuhrt und zu einer weltweiten Verbreitung von Reformschulen. Wie bekannt, gehörte Ungarn zu Beginn dieses Jahrhunderts innerhalb der Kinderforschung zu den tonangebenden Ländern Mitteleuropas. Die Idee zur Griindung der ungarischen Ver einigung fur Kinderkunde kam von László Nagy (1857-1931) und seinen Lehrerkollegen, auf deren Initiative im Jahre 1903 eine pädologische Kommission, dann im Jahre 1906 eine Gesellschaft ins Leben gerufen wurde. László Nagy, seine Mitarbeiter und Nachfolger, ebenso wie die ausländischen Vertreter der Richtung, erwarteten von der Verbreitung der modernen pädagogisch-psychologischen Bestrebungen eine neue Begrundung der Erziehungswissenschaft, die Vorbereitung einer neuen pädagogischen Anschauung (vgl. Depaepe 1993, 108).

Die zweite Epoche der geistigen Entwicklung in Ungarn war die Periode von 1920 bis 1945, die vor allem eine Kompromittierung und Selbstdiskriminierung der Sozial- und Politikphilosophie brachte. Mit der kommunistischen Räterepublik im Jahre 1919 begann die bis zu unserer Zeit dauernde Dezimierung von ungarischen Wissenschaftlern, die permanente Ablösung von ungarischen Eliten. Das Volkskommissariat für Unterrichtswesen hat auch das Wissenschaftsleben beeinträchtigt und das traditionelle Schul- und Hochschulwesen in Ungarn abgelehnt.2 Nach diesen und anderen Ubergriffen der Räterepublik kam eine Vergeltung, dann erfolgte die Vergeltung der Vergeltung nach 1945 und die immer neuen Wellen der marxistischen Säuberungen (vgl. Hanäk 1993, 39-40). Ein weiteres neues Element bei den Änderungen des geistigen Lebens und auch der Bildungspolitik zwischen den beiden Weltkriegen wurde entscheidend durch die Folgen des Friedenabkommens eines verlorenen Krieges determiniert. Der Vertrag von Trianon (1920) erschutterte alle gesellschaftlichen Schichten des ungarischen Volkes.3

Daher wurde die radikale Modernisierung des Bildungswesens nach dem Ersten Weltkrieg und nach einer kurzen Terrorzeit in der 1921 beginnenden Epoche der Bethlen-Konsolidation als eine strategisch bedeutsame Aufgabe betrachtet. Das Leitmotiv der Kulturpolitik in den zwanziger Jahren war die sogenannte "kulturelle Überlegenheit". Dieser Gedanke stammte von dem prominenten Kulturpolitiker, dem damaligen Kultusminister Kuno Klebelsberg (1875-1932). Diese Art von "Überlegenheit" bedeutete, daß die besiegte, ihres militärischen Potentials beraubte, territorial beschnittene ungarische Nation ihre Hegemonie gegenuber den "Nachfolgestaaten" (Tschechoslowakei, Rumänien, Yugoslawien) nur auf einem Gebiet, auf dem Territorium der Kultur, behaupten könne. Das Ziel der Konzeption war das Emporheben der geistig und moralisch verunsicherten Volksmassen. Das wichtigste Mittel dazu war eine christlich

nationale Ideologie mit neugestaltetem Inhalt: Neonationalismus. Mit Hilfe dieser Ideologie wurde die Ausbildung einer hochqualifizierten (aber mit nationalen und revisionistischen Gedanken erfüllten) Intelligenzschicht, der "Intelligenzelite", verwirklicht und daneben auf die allgemeine Hebung des kulturellen Niveaus der Bevtilkerung gedrängt.

In diesem Sinne wurde durch die Regierung ein neues Programm zur Bildungspolitik geschaffen, dessen Grundmotiv die Hebung des kulturellen Niveaus der breitesten Volksmassen war. Das Mittel dazu sah der Kultusminister Klebelsberg in der Expansion des Volksschulsystems. Das "Gesetz über die Errichtung und Erhaltung der Volksschulen für die landwirtschaftlichen Bevölkerungsschichten" dokumentiert diese Bestrebungen.4 Außerdem wurde ein großzugiges Programm begonnen, um die außerschulische Volksbildung und das System des Hochschulwesens sowie des Wissenschaftslebens weiterzuentwickeln (vgl. Németh/ Pukánszky 1994, 43-44).

Das Interesse an sozialen und sozialphilosophischen Fragen wurde in den zwanziger Jahren zuruckgedrängt. Ein wichtiges Thema der Philosophie wurde der Nationalgedanke, die Eigenschaften des Nationalcharakfers, der Nationalmentalität, wie es sich in erster Linie in den Werken von Istvän Dékäny, Tibor Joó, Lajos Prohászka, Sándor Karácsony widerspiegelte. Als Gegengewicht zu den analytischen, relativistischen und demaskierenden Bestrebungen der ersten zwei Jahrzehnte verstärkten sich die synthetisierenden, bewahrenden, das Absolutum und die Unveränderlichkeit suchenden Richtungen. Neben dem Neukantianismus spielte die geistesgeschichtliche Richtung seit den zwanziger Jahren daher auch in dem damaligen geistigen beziehungsweise pädagogisch-psychologischen Denken eine wichtige Rolle. Die Vertreter dieser Richtung wie Dilthey, Troeltsch und Spranger (später Huizinga, Ortega) wurden wichtig fur die bekanntesten Erziehungswissenschaftler dieser Epoche wie Gyula Kornis, Lajos Prohászka, Ödön Weszely, Sándor Karácsony, unter den Historikern fiir Gyula Szekfû, Bálint Hóman, Antal Szerb, Gábor Halász u. a. Die Lebensphilosophie hatte sich in ihren bedeutendsten Vertretern wie Nietzsche und Bergson schon seit der Jahrhundertwende ausgewirkt. Jetzt kam durch das Wirken von Spengler ein geschichtsphilosophischer Aspekt hinzu. Diese beiden Richtungen ergänzten einander, wie bei der Pädagogik von Sándor Karácsony und bei den bildungshistorischen Werken von Antal Szerb (Hanák 1993, 95-96). Bei den pädagogischen Theorien, die sich weiterhin auf christlich-theologische Elemente stutzten, lebte eine Neoscholastik auf, der in Ungarn wichtige Vertreter zuzuordnen sind wie Sándor Giesswein, Ottokár Prohászka, Antal Schutz, Cecil Bogná, Sádor Horváh und - während der ersten Phase seines Lebenswerkes - Dezsõ Várkonyi (Hanák 1993, 110).

Die Pädologie erweiterte sich in den zwanziger Jahren zur Jugendkunde, führte zu einer selbständigen Kinderpsychologie und hatte in Ungarn das Entstehen der pädagogischen Psychologie (Cecil Bognár, Elemér Kenyeres und Dezsõ Várkonyi) zur Folge (Pléh 1992). Die Verbreitung der Lehre von Freud sowie anderer Persönlichkeiten der damaligen Psychologie (Jung, Adler, Klages, Kretschmar) wurde von ungarischen Vertretern mit internationalem Ruf, Sándor Ferenczi und Pál Ranschburg, unterstutzt.

3. CHARAKTERISIERUNG DER PÄDAGOGIK ALS SELBSTÄNDIGE UNIVERSITÄTSDISZIPLIN AN DER UNIVERSITÄT IN BUDAPEST

Zahlreiche Elemente der genannten allgemeinen Entwicklungstendenzen des geistigen Lebens und der Philosophie in Ungarn wirkten ein auf das pädagogische Denken, das mehr und mehr zu einer selbständigen Erziehungswissenschaft wurde. Am Lebenswerk der nächsten Professorengeneration an der Universität Budapest läßt sich dies ablesen.

3. 1 Die Entfaltung des Herbartianismus

Die erste und wichtigste Persönlichkeit des Herbartianismus in Ungarn, Mór Kármán (1843-1915), erhielt ein Stipendium von József Eötvös für Leipzig, und machte sich schon in den siebziger Jahren in Deutschland mit der Pädagogik der Herbartianer Ziller und Rein bekannt. Nach seiner Studienreise wurde er an der Universität in Budapest als Privatdozent habilitiert. Er las während 70 Semestern uber Ethik, Psychologie und Pädagogik und spielte eine wichtige Rolle in der Organisation des Lehrerbildungseminars der Universität sowie bei der Grundung des Übungsgymnasiums. 25 Jahre lang war er Direktor und Lehrer dieses Gymnasiums. Er nahm auch an der Reform der Gymnasiallehrpläne teil. Die herbartianische Pädagogik wurde nach dem Tode von Ágost Lubrich im Jahre 1900 am Lehrstuhl fur Pädagogik der Universität in Budapest alleinherrschend (Pukánszky/Németh 1996, 508).

Dank Kármán wurde das herbartianische Konzept in den heimischen Gymnasien die zentrale Methode. Seine "Pedagógiai dolgozatok" (Pädagogische Aufsätze) aus dem Jahre 1909 weisen eigenartige herbartianische Auffassungen auf. Seiner pädagogischen Konzeption liegt ein ethischer Gedankenkreis zugrunde. Nach dieser Auffassung ist die Hauptaufgabe der Menschheit die Realisation ethischer Ideen, weil die Entwicklung der Menschheit auf ethische Ziele hin orientiert wird. In dieser ethischen Entwicklung hat jede Nation ihre eigenartige Stelle und Aufgabe. Deshalb ist das Teilnehmen am Leben der Nation die eigentliche Realisation von ethischen Aufgaben, und in diesem Prozeß kann vor allem die Pädagogik behilflich sein. Die Lehrer sollen befördern, daß die Nation ihre eigenen ethischen Aufgaben erfüllt und ein bewußtes Leben lebt (Pukánszky/Németh 1996, 509).

3.2 Die Pädagogik als selbständige Universitätsdisziplin bei Ernõ Fináczy

Ernõ Fináczy (1860-1935), der Nachfolger von Ágost Lubrich, ist als ein hervorragender Vertreter der ungarischen Erziehungswissenschaft bekannt. Er vertrat seit 1901 30 Jahre lang als Professor die klassischen Disziplinen der Erziehungswissenschaft: Theorie der Erziehung (Erziehungslehre), Didaktik und Geschichte der Erziehung. Das Textmaterial seiner didaktischen und theoretischen Vorlesungen wurde von seinen Studenten unter den Titeln "Elméleti pedagógia" (Theoretische Pädagogik, 1937) und "Didaktika" (Didaktik, 1935) veröffentlicht. Daneben war Ernõ Finäczy einer der wichtigsten Vertreter der ungarischen pädagogischen Historiker.

Seine erziehungswissenschaftliche Auffassung kann auf drei Quellen zurückgeführt werden: Erstens ist auf die traditionelle katholische Pädagogik zu verweisen, deren Vertreter Szilassy und dann Lubrich waren. Zweitens sieht man den Herbartianismus - vermittelt durch seinen Meister Mór Kármán. Vor allem in seiner Didaktik behielt und entwickelte er mehrere Elemente dieser Pädagogik und integrierte sie in seine eigene pädagogische Konzeption. Drittens ist der axiologische Idealismus zu nennen. Dessen Elemente können wir bei der theologischen Begrundung verschiedener pädagogischer Konzeptionen sehen, so bei István Schneller, Ödön Weszely und Gyula Kornis. Die Anregungen dazu gingen - im Falle von Fináczy einerseits von den teleologisch begründeten pädagogischen Systemen des vorigen Jahrhunderts, anderseits von der klassischen deutschen Philosophie (Kanf, Fichte und Hegen, und drittens von der neukantianischen Schule in Heidelberg (Windelband und Rickert) aus. Fináczy strebte bewußt danach, die religiösen Elemente der Axiologie bei der Begrundung seiner Pädagogik immer zur Geltung kommen zu lassen. Bemerkenswert ist seine differenzierte Auffassung zur Pädologie und Reformpädagogik. Einerseits hielt er die psychologische Argumentation zur Förderung der Erziehungswissenschaft wissenschaftlich fur wertvoll, anderseits protestierte er aber heftig gegen die Experten, die die traditionale, normative Erziehungswissenschaft als unbrauchbar brandmarkten und eine ganz neue, selbständige Pädagogik schaffen wollten (Pukánszky/Németh 1996, 516).

3.3 Versuch einer Pädagogik als integrierter Sozialwissenschaft bei Ödön Weszely

Ein vielfarbiges und reiches Lebenswerk schuf Ödön Weszely (18671935), der hervorragende Vertreter der praktischen und theoretischen Pädagogik des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach mehrere Jahrzehnte dauernder praktischer Arbeit in verschiedenen Schultypen wurde er 1910 Privatdozent an der Universität zu Budapest. 1918 wurde er Professor an der Universität in Pozsony (Pressburg) und - nach der Umsiedlung der Universität - zum Pädagogikprofessor der Universität in Pécs. Er nahm von Anfang an an der Organisation und der Fuhrung der heimischen pädologischen Bewegung teil und spielte eine wichtige Rolle bei der Reorganisation der Bewegung in den 30er Jahren. Die Umrisse seiner herbartianisch begrundeten Pädagogik veröffentlichte er 1909 unter dem Titel "A modern pedagógia útjain" (Auf den Wegen der modernen Pädagogik).

Seine anfänglich in erster Linie auf Reins Gedanken gegriindete pädagogische Konzeption wurde in seinem Hauptwerk "Bevezetés a neveléstudományba" (Einführung in die Erziehungswissenschaft, 1923) weiterentwickelt, in dem er die Grundlagen einer idealistisch-kulturphilosophisch begriindeten Pädagogik legte. Daraus entwickelte er seine Erziehungslehre, die im Jahre 1935 mit dem Titel "A korszerû nevelés alapelvei" (Die Grundsätze der zeitgemäßen Erziehung) publiziert wurde. In demselben Jahr, einige Monate vor seinem Tode, wurde er an der Budapester Universität zum Professor ernannt.

Weszely war der konsequenteste ungarische Vertreter der spätherbartianischen Pädagogik von Wilhelm Rein. Mit ihr begann - dank der Herausforderung und der Kritik der Reformpädagogik und Kinderkunde - eine grundsätzliche inhaltliche Modernisierung der traditionellen Pädagogik (Németh 1993, 72). So entstand ein System, in dessen Rahmen nicht nur die Kulturpädagogik und die axiologische Pädagogik, sondern auch die Sozialpädagogik, daneben die Gedanken der Reformpädagogik, die Pädologie und die neuen psychologischen Errungenschaften der 20er Jahre (Kulturpsychologie, Gestaltpsychologie, Psychoanalyse, Individualpsychologie usw.) Platz fanden (Nömeth 1990; Pukánszky/Németh 1996, 520).

3.4 Die Entfaltung der Pädagogik als Kulturphilosopilie

Der wichtigste Vertreter der ungarischen Kulturpädagogik, Lajos Prohászka (1897-1963), folgte Ödön Weszely auf dem Lehrstuhl fur Pädagogik der Universität Budapest. Seit dem Jahre 1917 arbeitete er neben Fináczy am Pädagogischen Institut, 1924 und 1927 hörte er als Stipendiat die Vorlesungen von Spranger an der Universität zu Berlin. Er beschäftigte sich zu dieser Zeit mit Fragen des deutschen Schulwesens. Im Jahre 1926 habilitierte er sich als Privatdozent an der Universität Pécs und 1929 in Budapest. Er las Pädagogik und Philosophie und war seit 1937 ordentlicher Professor der Budapester Universität, seit 1939 korrespondierendes Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Prohäszka spielte eine bedeutende Rolle in der Reorganisation des wissenschaftlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg. Das kommunistische Regime zwang ihn nach 1949 in den Ruhestand.

In seinen Werken "Pedagógia, mint kultúrfilozófia" (Pädagogik als Kulturphilosophie, 1929), "Az oktatás elmélete" (Die Theorie des Unterrichts, 1937), "A tanterv elmélete" (Die Theorie des Lehrplans, 1938) strebte auch Prohászka nach dem Erfassen der Essenz der Kultur und nach einem strukturierten System der pädagogischen Kategorien. Dieses Rahmensystem sollte an die Lebensbedingungen der Schule adaptiert werden können, und die Inhalte dieser Kategorien sollten eine zeitgemäße, humanistische Erziehung ermöglichen. Die Grundzuge seines pädagogischen Systems legte er in seinem Buch "Pädagogik als Kulturphilosophie" nieder. Hier bezog er sich auf die Auffassung seines Mentors Spranger und faßte die charakteristischen Ziige der Kulturphilosophie und der darauf aufbauenden Kulturpädagogik zusammen. Im Gegensatz zu Weszely behauptete er, daß die Pädagogik sich nur als Kulturpädagogik wissenschaftlich definieren kann. Nur diese Begrundung verleiht der Pädagogik allgemeingultige Grundsätze, auf denen man ein wissenschaftliches System aufbauen kann. Die Pädagogik soll nicht von dem Kinde, nicht von irgendeinem metaphysischen Prinzip, sondern von dem Begriff der Bildung ausgehen. Ein charakteristischer Zug der Kulturpädagogik ist, daß sie keine Reaktion auf die alten Tendenzen, kein utopistisches Programm ist; sie entstand als Resultat gewissenhafter wissenschaftlicher Forschung. Prohászka analysiert nicht nur die Verhältnisse der Kultur und der Bildung, sondern artikuliert deren Bewertung nach verschiedenen Hinsichten. Er hält sich von der Normativität der Herbartianer fern; die normative Zielsetzung der Bildung interessiert ihn nur indirekt. Prohászka beschäftigt sich vor allem mit der strukturellen Analyse der Bildung und der Kultur (Pukánszky/Németh 1996, 521 ).

Fazit 1: Die Tätigkeit der oben vorgestellten Professoren war mehr oder weniger intensiv mit der Budapester Universität verbunden. So können wir die These formulieren, daß - seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts - sich ein erziehungswissenschaftliches Paradigma der Budapester Professoren entfaltete. Diese 'Budapester Schule' war natürlich nicht homogen; verschiedene - obwohl miteinander in geistiger Verwandschaft stehende - dominierende Farben waren auf ihrer Palette: Ihre Quellen sind einerseits die auf katholischer Theologie basierende Pädagogik (Szilasy, Lubrich), anderseits die herbartische beziehungsweise herbartianistische Pädagogik (Kármán, Fináczy, Weszely). Nach der Jahrhundertwende findet sich daneben auch eine Rezeption des axiologischen Idealismus (Fináczy, Weszely) und der Kulturphilosophie (Weszely, Prohászka). Von diesem Standpunkt aus kamen einerseits die konsequente Kritik der Reformpädagogik (Fináczy, Prohászka) und andererseits die Bestrebungen zu einer integrierten Pädagogik mit der Eingliederung der neuen wissenschaftlichen Ergebnisse (Reformpädagogik, Sozialpädagogik, Jugendkunde usw.) als angewandter Sozialwissenschaft (Weszely). Dank Weszely charakterisierten diese Tendenzen auch die Pädagogik der vierten, 1914 in Pozsony gegrundeten und in den zwanziger Jahren nach Pécs übergesiedelten ungarischen Universität. Trotz der inneren Differenzen dieser erziehungswissenschaftlichen Schule sprechen wir von einem 'Paradigma der Budapester Schule'.

4. EIN ANDERES PARADIGMA:

DIE PÄDAGOGISCHEN KONZEPTIONEN DER PROFESSOREN AN DER UNIVERSITÄT KOLOZSVÁR-SZEGED

4. 1 Vorläufer der Reformpädagoglik: Lajos Felméri

Im Jahre 1872 wurde die zweite Universität Ungarns in Kolozsvár gegründet. Der erste Professor fur Pädagogik an dieser Universität war Lajos Felméri (1840-1894), der mehrere Studienreisen nach Deutschland und England unternahm. Sein Buch "Die Geschichte und die Gegenwart des englischen Schulwesens" (1878) ist eine anspruchsvolle Darstellung der englischen Schulen seiner Zeit. Vielleicht ist sein Interesse für die englische und französische Pädagogik auf diese Erlebnisse zurückzuführen. Beim Gestalten seines pädagogischen Systems geht er vor allem auf die Werke von englischen, französischen und teilweise von deutschen Philosophen und Pädagogen zurück. Er zitiert gern Locke und Alexander Bain, stritt aber immer überaus heftig mit den Gedanken von Herbart und den Herbartianern. 1890 veröffentlichte er sein Hauptwerk "A nevelestudomány kézikönyve" (Das Handbuch der Erziehungswissenschaft), das eine vielseitige, anspruchsvolle und zeitgemäße Synthese der erziehungswissenschaftlichen Ergebnisse seiner Epoche war.

Er schreibt in seinem Buch uber die Wichtigkeit der Plastizität des Geistes, die nur durch eine sogenannte "liberale" Erziehung erreicht werden kann. Der Gegenpol dieses Liberalismus ist der pädagogische "Utilitarismus", wodurch die Schulen auf das Niveau einer "Fabrik" gesunken seien - so Felméri (Felméri 1890, 107).

Es ist bemerkenswert, welch ein Interesse er fur die psychologischen Grundsätze der Erziehung hatte. Er schreibt üiber die Wichtigkeit der Beobachtung der Kinder, er hält die Berücksichtigung der verschiedenen Gegebenheiten, Praedispositionen und Fähigkeiten der Kinder fur unerläßlich. So können wir ihn einen Vorläufer der Reformpädagogik in Ungarn nennen. Trotz der Tatsache, daß er die Erziehung als eine Art Kunst beschreibt, schildert er eingehend die verschiedenen Ziele, Aufgaben, Inhalte und Methoden der Erziehung und des Unterrichts. In seinem Buch gibt er den Lehrern viele praktische Hilfen (schreibt 'praxisorientiert', wie man heutzutage sagt), verzichtet aber nie auf den Anspruch auf das Gestalten eines kohärenten erziehungswissenschaftlichen Systems. Sein vorzeitiger Tod hindert Lajos Felméri am Vervollständigen seines vielversprechenden Lebenswerkes.

4. 2 Der Vertreter der Persönlichkeitspädagogik: István Schneller

Der Nachfolger von Felméri auf dem Lehrstuhl fur Pädagogik an der Universität Kolozsvár war István Schneller (1847-1939). Schneller grundete sein pädagogisches System auf die Elemente der deutschen klassischen Philosophie. Die ethischen und sozialpädagogischen Prinzipien seiner sogenannten "Persönlichkeitspädagogik" haben Wurzeln bei Kant, Hegel, Natorp und Schleiermacher. Auch die soziale Sensibilität der schleiermacherschen Ideen können wir bei Schneller finden.

Trotzdem ist die zentrale Idee der Pädagogik von Schneller die individuelle ethische Entwicklung des Menschen. Er unterscheidet drei Stufen: das "sinnliche Ego", das "gesellschaftliche Ego" und das "sittliche Ego". Diese Konzeption erinnert uns an die Entwicklungsphasen von Pestalozzi (Naturzustand, gesellschaftlicher Zustand und sittlicher Zustand), man kann aber auch den Einfluß von Immanuel Kant spuren. Die moralische Entfaltung des Kindes und Jugendlichen kann durch die liebevolle Zuwendung der Eltern und der Lehrer erleichtert werden. Diese Liebe ist bei Schneller eine zentrale philosophische und pädagogische Kategorie. Wir können die Wurzeln dieser Auffassung von Liebe entdecken, wenn wir an die protestantisch-religiöse Weltauffassung von Schneller denken. (Ursprunglich war er Pastor und Theologe.) Der Mensch wird nur auf diesem Wege vom Individuum zur Persönlichkeit werden, wenn er die zwei Stationen "homo homini lupus" und "homo homini Deus" übersteigt und auf der dritten Station "homo Deus" ankommt. Nur auf diesem Wege kann das Individuum als reife Persönlichkeit in das Gottesreich integriert werden.

Das pädagogische Fazit der Schnellerschen Auffasung ist, daß diese Liebe sich auch im Alltag des Unterrichts manifestieren sollte. Der Unterricht ist laut Schneller eine Wechselwirkung von Persönlichkeiten und nie eine Wechselwirkung von Ideen, Vorstellungen und Realen, wie bei Herbart. In dem Prozeß des Unterrichts spielen solche schwer analysierbaren Erscheinungen wie "überzeugende Kraft des Tones" und "die Strahlung des Blickes" eine wichtige Rolle.

Auch Schneller polemisiert iiberaus heftig gegen die Herbartsche Pädagogik. So streitet er in verschiedenen Fachartikeln und Buchern mit den ungarischen Anhängern Herbarts: mit Mór Kärmän und mit János Waldapfel, der ein Mitarbeiter von Kármán war. Waldapfel arbeitete in dem Übungsgymnasium der Budapester Universität. Er war Herbartianer und kritisierte deshalb die Konzeption und die Praxis der von Schneller gegründeten Kolozsvárer Übungsmittelschule. Diese Schule verfügte über eine innere Differenzierung, sie hatte mehrere Zuge, unter denen die Schüler eine Auswahl treffen könnten. Es gab einen Zug mit griechischer und lateinischer Sprache, einen anderen mit modernen Sprachen usw. Diese Schule vereinigte also die Bildungsinhalte des damaligen Gymnasiums und Realgymnasiums.

Nach 1919 sollte Schneller mit der Universität die sogenannte "Schatzstadt" Kolozsvár (Cluj) verlassen. Die Professoren waren durch die rumänischen Behörden zur Umsiedlung gezwungen worden; so fand die Universität Kolozsvär im Jahre 1921 in Szeged Asyl.

4. 3 Ein Vertreter der liberalen Nationalpädagogik: Sándor Imre

Schneller war schon im Ruhestand, als ihm Sándor Imre (1877-1945) im Jahre 1925 auf dem Lehrstuhl folgte. Imre schuf ein originelles System: eine liberale Nationalpädagogik, die Pädagogik der Erziehung der ungarischen Nation. Er integrierte in seinem System die wertvollsten Elemente seiner Vorgänger in Kolozsvár und Szeged. Bewußt baute er die verschiedenen Elemente des nationalen Gedankens vor Felméri und Elemente der Persönlichkeitspädagogik von Schneller in seine erziehungswissenschaftliche Konzeption ein. Im Jahre 1928 publizierte er ein Buch unter dem Titel "Neveléstan" (Erziehungslehre). Darin gibt er eine rationelle Synthese seiner Pädagogik, eine logische Struktur der Kategorien und viele praxisorientierte Ratschläge fur Gymnasiallehrer und werdende Lehrer. Der markanteste Charakterzug dieser Pädagogik ist die sozialpädagogische Begrundung und Zielsetzung. Imre ist es gelungen, das Gleichgewicht zu finden zwischen Individualpädagogik und Sozialpädagogik. Die Nationalpädagogik formt bei ihm gar keine "gesichtslose Masse", er zielt auf das harmonische Ausgestalten von verschiedenen physischen, ästhetischen, kognitiven Fähigkeiten und den sittlichen Charakterzugen des Individuums (Imre 1912, 54). Die soziale Sensibilität von Sándor Imre blieb aber immer konsequent und liberal, er sympathisierte niemals mit dem politischen Extremismus, wie dem Nationalsozialismus.

Sein Anhänger war Béla Tettamanti, ein Privatdozent der Universität Szeged, der die pädagogische Konzeption seines Mentors ständig begeistert popularisierte. Tettamanti schrieb Fachartikel, in denen er die kulturpädagogische Auffassung von Lajos Prohászka erbittert kritisierte; dafür bekannte er sich zu der Nationalpädagogik von Sándor Imre. Diese Debatte war die spektakulärste Konfrontation der beiden erziehungswissenschaftlichen Schulen, der Paradigmen von Budapest und Szeged'.

Neben der Nationalerziehung interessierte sich Sándor Imre auch für die maßhaltenden Tendenzen der Reformpädagogik. So unterstützte er seit 1941 die Arbeit seiner Mitarbeiterin Erzsébet Baranyai in der Erziehungspsychologischen Station der sogenannten "Neuen Schule" zu Budapest. (Die "Neue Schule" war eine der bekanntesten Reformschulen in Ungarn, deren Leiterin Emma Löllbach, Domokos' Frau, war. Diese Schule war in den Budaer Gebirgen von 1915 bis 1949 aktiv.)

Nicht nur Sándor Imre sympathisierte mit einigen Richtlinien der ungarischen Reformpädagogik, auch Dezsõ Várkonyi hatte ähnliche Ideen. Dezsõ Várkonyi (1888-1972) war seit 1929 öffentlicher Professor der Pädagogik an der Universität zu Szeged (ursprünglich Kolozsvár). Sein Lehrstuhl bestand parallel mit dem Lehrstuhl von Sándor Imre. Er war Psychologe, publizierte eine Reihe von erziehungspsychologischen und entwicklungspsychologischen Fachartikeln und Buchern und unterstutzte mit Rat und Tat die Arbeit von Erzsébet Dolch, die in Neu-Szeged eine sogenannte Gartenschule führte. Diese Schule verwirklichte die reformpädagogischen Ideen in der Praxis, bestand aber nur einige Jahre lang.

4.4 Die Professoren der Universität in Debrecen

Ähnliche Tendenzen wie an der Universität in Szeged sieht man im Kreis der Professoren der im Jahre 1914 gegründeten Universität in Debrecen, die auch stark vom Protestantismus dieser Epoche beeinflußt waren. Der erste Ordinarius fur Pädagogik an der neuen Universität war bis 1941 Gyula Mitrovics (1871-1965). In seinem pädagogischen Hauptwerk "A neveléstudomány alapvonásai" (Die Grundrisse der Erziehungswissenschaft, 1933) findet sich einerseits die Wirkung der protestantischen Traditionen der reformierten Hochschulen in Sárospatak und Debrecen und der Universität in Kolozsvár-Szeged, andererseits eine innere Verwandtschaft mit den verschiedenen religiösen pädagogischen Konzepten seiner Epoche, mit der von Paul Barth repräsentierten Richtung der deutschen Sozialpädagogik, mit der Ethik von Höffding, mit Meumanns experimenteller Pädagogik und mit der experimentellen Psychologie des jesuitistischen Wissenschaftlers Fröbes (Pukánszky/Németh 1996, 477).

Die wissenschaftliche Tätigkeit seines Nachfolgers Sándor Karácsony (1891-1952) wurde nicht nur durch die Beobachtung der nationalen Eigenschaften, der 'ungarischen Geistigkeit' im Geist der Völkerpsychologie von Wundt und einer volkstümlichen Inspiration charakterisiert, sondern auch durch die Wirkung verschiedener Richtungen des Existenzialismus und der Reformpädagogik und eine starke gesellig-soziale-psychologische Orientierung. In seinem Werk "A magyar nyelvtan társas-Iélektani alapon" (Ungarische Grammatik auf Grund einer geselligen Psychologie, 1938) untersucht er die Phänomene der Erziehung auf Grund einer "geselligpsychologischen Grammatik" als Kommunikation (Pukánszky/ Németh 1996, 481-483).

Fazit 2: Gab es reine Paradigmen oder eher gemischte Strömungen in der Geschichte der ungarischen Pädagogik?

Es ist wichtig festzustellen, daß es in dem betrachteten Zeitraum in Ungarn nur die Universitätspädagogik gab, keine andere bedeutende pädagogische wissenschaftliche Schule.

Wenn wir zusammenfassend diese beiden erziehungswissenschaftlichen Schulen Ungarns - die Budapester und die Szegeder - betrachten, können wir eine innere Differenzierung entdecken. In der Entwicklung folgten einander verschiedene pädagogische Konzeptionen, wie z. B. die - durch die deutschen Philosophie und die protestantischen Theologie markant geprägte - Persönlichkeitspädagogik von Schneller und die liberale Nationalpädagogik von Sándor Imre. Diese waren also 'Paradigmen' im Kuhnschen Sinne des Wortes. Diese vertikale Aufeinanderfolge der Paradigmen wurde damals durch das horizontale Nebeneinanderleben der Budapester und Szegeder Schule ergänzt. Auch das nennen wir eine Art von Paradigma, weil diese Richtungen, Tendenzen inhaltlich nicht nur differenziert, sondern auch durch eigene Charakterzuge geprägt waren.

Diese charakteristischen Zuge waren - wie es oben geschildert wurde im Falle der Budapester Schule: Herbartianismus, axiologischer Idealismus, kulturpädagogische Begrundung. Bei den Vertretern der Kolozsvárer-Szegeder Schule und auch an der Universität in Debrecen können wir von einer Dominanz der Persönlichkeitspädagogik und der Nationalpädagogik und von einem erbitterten Antiherbartianismus reden. Wenn wir also die Geschichte der Entwicklung der ungarischen Erziehungswissenschaft betrachten, dann sehen wir im Laufe der Zeit nicht nur den Wechsel verschiedener Paradigmen, sondern auch das Nebeneinanderleben und die Konfrontation der jeweiligen Richtungen.

***

Dies war die Situation bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, bis 1945. Bemerkenswert könnte die 'Nachwirkung' dieser beiden erziehungswissenschaftlichen Schulen sein. Gab es solche Paradigmen auch später, auch während der 1950er Jahre? Das könnte ein interessantes Thema späterer Forschungen sein. Nur einige karge Tatsachen dazu: Sándor Imre starb 1945, Lajos Prohászka und Gyula Kornis wurden nach 1949 deportiert, Dezsõ Várkonyi durfte nicht mehr an der Universität lehren. Wir fürchten, daß die Antwort auf die gestellte Frage "nein" sein durfte ...

ANMERKUNGEN

1 Die erste Normalschule (schola praeparandorum) wurde in Ungarn im Jahre 1775 in Pozsony (Pressburg) gegriindet. Diese vierklassigen Musterschulen dienten der praktischen Ausbildung der Volksschullehrer der Trivial- und Hauptschulen auch in Ungarn. Die erste selbständige Lehrerbildungsanstalt wurde im Jahre 1828 in Eger gegründet (Mészáros 1981 ).

2 Einige typischen Daten dazu: nur an der Philosophischen Fakultät der Universität in Budapest wurden 25 Professoren (die Hälfte des akademischen Personals) suspendiert.

3 In dem Schloß "Großer Trianon" in der Nähe von Paris wurde am 4. Juni 1920 ein Friedenspakt parafiert, wodurch das Territorium des Ungarischen Königreiches von 282 000 Quadratkilometer auf 93 000 Quadratkilometer reduziert wurde, die Anzahl der Bevölkerung sich von 18 Millionen auf 8 Millionen Einwohner verminderte, mehr als 3,3 Millionen stammechte Ungarn muf3ten in geschlossenen ethnischen Einheiten auf den Gebieten der sogenannten "Nachfolgestaaten" weiterleben. Ein Drittel der Volksschulen und mehr als die Hälfte der Mittelschulen gerieten iiber die Grenzen des beschnittenen Ungarn.

4 Infolge dieses Gesetzes wurde bis zum Ende der zwanziger Jahre ein bis dahin beispielloses Entwicklungsprogramm verwirklicht: In einigen Jahren wurden 5000 Volksschulklassen und dazu 3000 Dienstwohnungen fiir Volksschullehrer errichtet vor allem in den Eidhöfen der ungarischen Tiefebene.

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PAEDAGOGICA HISTORICA,

International journal of the history of education

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